L’ORGUE MYSTIQUE
Als treuer Katholik war Tournemire der Ansicht, dass seine
Berufung als Organist eng mit der Liturgie verbunden sei. Auf die
Frage, wie er seine Rolle als Organist einschätzte, antwortete
Tournemire in einem Interview mit Norbert Durfourcq im März
1936: „Mit der Liturgie ganz verschmolzen; das heißt, inspiriert
von der Pracht der liturgischen Texte sowie der gregorianischen
Linien, die wie "die luftige und bewegende Paraphrase der
unbeweglichen Struktur der Kathedralen" sind, wie Huysmans
schrieb.“
Die Musik, die Tournemire während der Messe improvisierte,
stand immer in enger Verbindung mit dem Gregorianischen
Proprium des Sonntags. Inspiriert von diesen Improvisationen
und auch als Vorreiter bei der Restaurierung des Gregorianischen
Gesangs war es Joseph Bonnet (Organist in St. Eustache und Oblat
Benedictiner in Solesmes), der Tournemire zum Komponieren für
die Liturgie anregte. So entstand ein Werk, dessen Umfang und
Tiefe ein Denkmal der Orgelliteratur darstellen sollte: "Die
mystische Orgel". Noch nie in der Geschichte der Orgelmusik
wurde der Gregorianische Gesang in so großem Umfang
behandelt.
Das Corpus besteht aus 51 Andachten, die dem gregorianischen
Proprium sämtlicher Sonntage und Feste des liturgischen Jahres
entsprechen. Jedes Stück dauert ungefähr 15 Minuten und
besteht aus 5 Teilen : Präludium, Offertorium, Erhebung,
Kommunion und Finale, wobei dieses letztere Stück verschiedene
musikalische Formen annimmt. Eine Ausnahme bildet die Andacht
des Karsamstags, die nur 3 Teile umfasst.
Die Mystische Orgel folgt dem Zyklus des Kirchenjahres und
besteht aus drei Teilen : die Weihnachtszeit, die Osterzeit und die
Zeit nach Pfingsten. Der kirchlichen Tradition folgend, ist die Orgel
in der Vorbereitungszeit (Advents- und Fastenzeit) sonntags still.
Dem Corpus wurden lediglich Stücke für zwei Sonntage in der
Fastenzeit ("Laetare Jerusalem" und "Gaudete") und für den 3.
Advent beigefügt.
Das Corpus wurde auch mit Musik für zahlreiche kirchliche Feste
ergänzt (verschiedene Marienfeste, Himmelfahrt, Sakramentsfest
und Allerheiligen).
Andachten mehreren seiner Freunde wie Maurice Duruflé, Joseph
Bonnet, Alexandre Cellier und Daniel Lesur.
Tournemire schafft eine Anpassung des von Franck geerbten
symphonischen Stils an die Liturgie. Durch die Wahl seiner
Registrierungen und bestimmter Sprachmustern kündigt er
jedoch die Wiederentdeckung der "alten Meister" wie Buxtehude,
Frescobaldi, Couperin an, sowie das Aufkommen der
„neoklassischen“ Bewegung.
Für Tournemire stellten die Gregorianischen Gesänge eine
unerschöpfliche Quelle prächtiger und mysteriöser Linien dar. Aus
diesem Grund besuchte er ab 1927 regelmäßig die Abtei von
Solesmes, um die Komposition der Mystischen Orgel
vorzubereiten. Er freundete sich mit den bedeutende
Gregorianikern und Semiologen Dom André Moquereau und Dom
Eugène Cardine an.
In seinem Werk beschäftigte er sich auch sehr mit Farben und
Registrierung, die er in der frühen Musik von Frescobaldi, De
Grigny und Buxtehude recherchierte. In seinen Memoiren notierte
er: "Registrierung", oder Farbe, entsteht synkron mit dem Denken,
und wo letzteres überlegen ist, wird die Kolorierung zu dessen
bescheidener Dienerin, alles fügt sich klar und logisch zusammen.
Die Persönlichkeit des "Koloristen" offenbart sich vor allem in der
Kunst der Improvisation ; denn diese geheimnisumwobenen
Kunst erfordert eine restlose Verschmelzung der Struktur und der
schillernden Kolorierung ". (Memoiren, S.124)
Zum Schluß können wir die Zeilen zitieren, die Olivier Messiean
über dieses Meisterwerk der geistlichen Musik des 20.
Jahrhunderts geschrieben hat :
"Charles Tournemires Orgue Mystique hat es vermocht, [...] den
Gregorianischen Gesang zu modernisieren, Harmonien nach der
Art Debussys und die Polytonalität in die jubilierenden Arabesken
der Allelujas einzufügen, deren gelockerter Rhythmus von
verblüffender Aktualität ist. Ein solches Werk ist wahrlich
katholisch, liturgisch und lebendig. Gegenwärtig mag es das
Meisterwerk der Sakralkunst sein. "
Victor Weller –Juli 2019